Auch für Susanna Olivia Smith war es ein Schicksalstag gewesen. „Heute schaffe ich es….heute komme ich endlich von ihm los!“, hatte sie erst am Morgen noch gedacht. Nun, fünf Stunden später, war ihr Enthusiasmus verflogen. „Ich bin ein Nichts, ein Niemand. Nicht einmal hässlich genug bin ich. Dabei hätte ich gedacht, gerade das wäre meine hervorstechendste Eigenschaft. Schließlich hat er mir das oft genug an den Kopf geworfen.“, dachte sie und seufzte. Es hätte ihr Tag sein sollen, der Tag, an dem aus der unscheinbaren Raupe endlich ein Schmetterling wird. „Werde ich je wieder den Mut zu einem solchen Schritt aufbringen können?“, fragte sie sich. „Selbst damals hatte ich nicht den Mut….“ Sie dachte zurück an die Tage der Qual, als sie noch bei ihrem autoritärer Vater lebte. Ständig hatte er sie beschimpft, sie als Abschaum der Gesellschaft bezeichnet, ihr das letzte bisschen Selbstwertgefühl aus dem Leibe geprügelt. Und sie hatte es nicht geschafft, von ihm loszukommen. Erst das Jugendamt hatte sie aus dieser Hölle befreit, aber es war schon zu spät gewesen – ihr Innerstes war bereits zu Stein geworden. Sie begann leise zu schluchzen. Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Einer der Juroren hatte den Raum betreten. Zum Glück nicht derjenige, der sie angesehen hatte wie das Stück Fleisch, das sie war, und derart nach Alkohol gerochen hatte, wie ihr Vater sonntags. Es war der Mittlere, der Freundliche, der so nett gelächelt hatte. Auch jetzt lächelte er und bot ihr ein Taschentuch an. Sie nahm es dankend an und schnäuzte sich. Er lächelte wieder, diesmal über das unerwartet laute trompetende Geräusch. Susanna errötete, hatte aber nicht das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. Er sah abwartend auf sie hinunter. „Möchten Sie etwas trinken, einen Kaffee vielleicht?“ Sie verneinte dankend. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“ „Sehr sicher.“ Sie zögerte. „Ich will Sie nicht aufhalten, Sie haben bestimmt viel zu tun.“ „Ich habe eigentlich schon Feierabend.“ „Ach? Und warum gehen Sie dann nicht nach Hause?“ „Nun, ich hatte das Gefühl, sie bräuchten mich vielleicht. Ihr Name, wissen Sie? Wie ein schwaches S.O.S.“ Sie lächelte schüchtern. „Also, erzählen Sie.“ Er sah sie eindringlich an. „Warum sind Sie noch hier?“ „Oh, ich…ich konnte mich wohl einfach nicht mit der Vorstellung abfinden, dass mein Traum hier endet.“ Er nickte verständnisvoll. „Ja, so etwas ist schwer zu akzeptieren.“ Ihm schien eine Idee zu kommen. „Warten Sie, vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.“ „Wirklich? Das würden Sie tun?“ Sie strahlte. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung. „Natürlich.“, nickte er. „Haben sie Familie?“ fragte er dann überraschend. „Meine Mutter ist schon lange tot und mein Vater…ist auch tot.“, erwiderte sie mit kaum merklichem Zögern. Er schenkte ihr wieder sein unwiderstehliches Lächeln. „Gut. Kommen Sie. Ich werde Ihnen helfen…aber sie müssen alles tun, was ich Ihnen sage.“, betonte er. Susanna fühlte sich erleichtert. Alles tun, was man ihr sagte…das war ihr vertraut, das kannte sie. „Tu einfach das, was ich dir sage, Susanna, dann passiert dir nichts, dann ist Daddy auch lieb zu dir.“, hörte sie die Stimme ihres Vaters in ihren Gedanken, verscheuchte sie aber schnell. „Diesmal nicht.“, dachte sie. „Diesmal wird alles anders. Bestimmt.“

Über traumtaler

Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum. Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen, dort wo die Alten sich zu Abend setzen, und Herde glühn und hellen ihren Raum. Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum. Dort wo die Abendglocken klar verlangen und Mädchen, vom Verhallenden befangen, sich müde stützen auf den Brunnensaum. Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum; und alle Sommer, welche in ihr schweigen, rühren sich wieder in den tausend Zweigen und wachen wieder zwischen Tag und Traum. ~Rilke~ Zeige alle Beiträge von traumtaler

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